Ehrung von Lucien Hirth durch Raymond
Gourlin
In vergangenen Zeiten legte man den Verstorbenen
eine Münze in den Mund, um ihnen die Reise in die andere Welt
zu ermöglichen.
Mein lieber Lucien, Du brauchst Deine Reise in
die Welt, die die „bessere“ genant wird, nicht mehr
zu bezahlen, denn das hast Du bist davon befreit.
Im Juni 1940 warst Du noch keine 17 Jahre alt
und Du hast die brutale Annektion des Elsaß durch die Deutschen
nicht ertragen. Auf Rat Deines Vaters hin hast Du Deine Heimaterde
verlassen. Du bist in die Schweiz gegangen, aber dort warst Du
unerwünscht und es bestand die Gefahr, daß Du an die
Deutschen ausgeliefert wirst. Du unternimmst den Versuch, in das
noch unbesetzte Frankreich zu gehen, d.h. in die „freie Zone“.
1943 trittst Du der Gruppe „Jeunesse et
Montagne“ (Jugend und Berg) bei – einer paramilitärisch
organisierte Gruppe, über die Du in Kontakt mit der Résistance
kommst. Schnell erhältst Du den Posten des Kommandanten von
Gap (Stadt in Südfrankreich). Nach der Verhaftung durch den
deutschen Sicherheitsdienst, wirst Du in der Kaserne von Turial
in Chambéry interniert, anschließend ins Fort von
Montluc nach Lyon überstellt. Dort im Gefängnis wird
das Schicksal für Dich entscheiden, denn Eure Folterer hatten
entschieden, 20 Gefangene aus vier Zellen zu exekutieren. In Deiner
Zelle wart Ihr nur zu viert und die Zahl von 20 war noch nicht
voll. Anschließend dann Compiègne, Vorzimmer der Konzentrationslager.
Am 15. Juli Aufbruch ins Unbekannte. Transport zu Hundert in einem
Viehwaggon – Transport Nummer 409 mit 1.700 Männern.
Das Unbekannte ist das große Konzentrationslager in Norddeutschland,
Neuengamme. Neuengamme, ein weitgehend unbekanntes Lager, von dem
so gut wie nie gesprochen wird, da es nie befreit worden ist. Dort
kommst Du am 18. Juli an. Dort beginnt die Hölle, die niemand
sich vorzustellen vermochte. Es ist die organisierte Entmenschlichung.
Du verlierst Deine Identität, vollständig entkleidet,
erniedrigt; Du wirst mit einer blau-weiß gestreiften sogenannten
Uniform ausgestattet.
Lucien Hirth existiert nicht mehr, Deine neue
Identität ist die Nummer 37 014. Du bist ein „Stück“ geworden,
ein Objekt, wie die SS sagt. An diesem Ort wirst Du Deinen Kreuzweg
gehen.
Überstellt in eines der zahllosen Außenlager,
nach Bremen-Farge, baust Du gezwungenermaßen, unter Schlägen,
mit an dem riesengroßen U-Boot-Bunker, der den Namen „Valentin“ trägt.
Vor den heranrückenden alliierten Truppen
wird das Kommando am 7. April 1945 ins Stammlager Neuengamme evakuiert.
Ein langer Weg, um das Ziel zu erreichen. Ein Weg, dem wir den
Namen „Todesmarsch“ gegeben haben – so viele
Häftlinge wurden ermordet, weil sie nicht mehr marschieren
konnten. Erneut kommst Du in Neuengamme an. Die Evakuierung geht
weiter und Du erreichst den Hafen von Lübeck und die Bucht
von Neustadt. Du wirst auf das Schiff „Cap Arcona“ gebracht
und von dort am 28. April auf das Schiff „Athen“ verlegt.
Wieder einmal meint es das Schicksal gut mit Dir, denn dieses Schiff
wird als einziges nicht untergehen während der Tragödie
des 3. Mai.
Nach der Befreiung durch die Engländer kehrst
Du per Flugzeug in Deine Heimat zurück und nochmals greift
das Schicksal für Dich ein: Denn das Flugzeug, in dem Du eigentlich
sitzen solltest, stürzt in Belgien ab mitsamt den Häftlingen
an Bord, von denen keiner überlebt.
Am 20. Mai 1945 endlich triffst Du wieder in Deiner
Heimat ein und Du bist wieder mit Deiner Familie vereint. Deine
Gesundheit ist alles andere als in einem guten Zustand und es bedeutet
eine große Anstrengung für Dich, wieder zu Kräften
zu kommen. Mehrere Jahrzehnte hast Du Dich für die Familien
der Verschwundenen engagiert, für das Andenken und für
die Weitergabe der Erinnerung in Schulen und Gymnasien. Durch Deine
Kenntnisse der deutschen Sprache hast Du der Geschichtskommission
unserer Amicale immense Dienst erweisen können und zum Entstehen
ihres Buches beigetragen.
Meine lieber Lucien, Du bist aufgebrochen, um
die lange Kolonne der gestreift-Gekleideten, die vor uns gegangen
sind, wiederzufinden und auch all diejenigen, die Du geliebt hast.
Du wirst uns schrecklich fehlen, aber es ist wahr, eines Tages
werden wir alle uns wiedertreffen in dieser anderen „besseren“ Welt – halte
uns dort einen Platz frei an Deiner Seite, und ich sage an dieser
Stelle nur „auf Widersehen“. Für mich bleibst
Du immer präsent.
Deiner Ehefrau, Deinen Kindern, Deinen Enkelkindern,
Deiner ganzen Familie, sprechen wir unser tiefes und ehrliches
Beileid aus und versichern sie all unserer Freundschaft.
Auf Wiedersehen, Lucien. Titi – Raymond
Gourlin

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